In Gefangenschaft


Novoflot umspielen das Thema Freiheit in ihrer Musiktheaterinstallation „Wir sind so frei #1 Fidelio“.

Von Elsa Thiemar

Sie laufen in einer Reihe und sie laufen schnell. Der Vorderste wagt es, sich plötzlich von der Gruppe zu lösen und rennt in großen Schritten weg. Plötzlich erschallt ein greller Trompetenton – der Mann bleibt wie ertappt stehen, reißt die Arme erschrocken nach oben. Unbeirrt laufen die anderen der Reihe hinter ihm weiter. Er wiederum gliedert sich widerstandslos an deren Ende ein, bis das Spiel von vorne beginnt und der nächste rennt.

Unter dem Titel „Wir sind so frei #1 Fidelio“ präsentiert die freie Opernkompanie Novoflot den ersten Teil ihrer Installation, als freie Variation zu Ludwig van Beethovens „Fidelio“-Oper. Seit 2002 befasst sich Novoflot in verschiedenen Projekten mit der experimentellen Seite des Musiktheaters. So auch hier, unter der Regie von Sven Holm in der Villa Elisabeth, deren Saal sie in eine abgedunkelte Ausstellung verwandeln. Eine vierstündige frei begehbare Performance, die im Loop stattfindet.

Im Raum verteilt befinden sich auf schwarzen Ausstellungsstelen verschiedene Gegenstände, mit kleinen Lampen kalt und grell beleuchtet. Ein sehr kleines Informationstäfelchen, oft durch eine Staubschicht und dem von hinten einfallenden Licht fast unlesbar, weist auf das jeweilige Ausstellungsstück hin: Teil eines Gewebeklebebands, Toast, ein Fingernagel der Jeanne d’Arc, ein halb aufgeblasener grüner Luftballon, ein Bücherstapel, eine neongelbe Warnweste aus Polyester. Tische mit integrierten Bildschirmen bilden Wörter und später kurze schwarzweiß oder rot melierte Filmsequenzen ab. Auf der linken Seite stehen ein Synthesizer, ein mit dunklem Stoff abgedecktes Klavier, ein Keyboard, ein runder Konferenztisch. Auf der rechten Seite ein Mikrofon und eine Trompete sowie ein kleiner Raum zwischen zwei Saalsäulen, aus dessen Türspalt dunkelrotes Licht quillt. Sitzplätze gibt es nicht.

Während der ersten Minuten wagt sich das Publikum schüchtern in den Raum hinein. Einige Besucher:innen schauen sich um, laufen gezielt zu Ausstellungsstücken, begutachten sie mal mehr und mal weniger aufmerksam. Der Gesang einer Sopranistin ist über die verteilten Lautsprecher im Saal zu hören. Bald darauf mischen sich fast unmerklich die Performer:innen unter ihr Publikum. Menschen wandern durch den Raum, Gesang erklingt im Saal und wie aus weiter Ferne aus den Lautsprechern. Gewagt hohe Töne sind darunter, blecherne, laut verstärkte Klänge der Trompete und wabernde tiefe Klänge der Synthesizer.

Auf Deutsch präsentiert ein Performer ausgewählte Ausstellungsstücke: Es sind Überbleibsel von Krieg, Gewalt, Aufständen und dem Kampf um Freiheit. Ein anderer richtet das Wort auf Französisch an uns. Im Hintergrund wird Eugène Delacroix’ Gemälde „Die Freiheit führt das Volk“ projiziert, teilweise überschattet von sich bewegenden Formen: ein weinendes Kind, über den Boden mühsam kriechenden Personen.

Sie alle sind gefangen, wenn sie wie im Gefängnistrakt in einer Reihe laufen und bei ihren Fluchtversuchen von der Trompete zurückgepfiffen werden oder wenn sie panisch an die Türen des Saals hämmern und diese nicht öffnen können. Das ist auch das Einzige, was an den titelgebenden „Fidelio“ erinnern könnte. Wer Beethovens Oper nicht kennt, dem entgeht inhaltlich nicht wirklich etwas. Während sich dort Leonore als Fidelio verkleidet, um ihren zu unrecht eingesperrten Ehemann Florestan zu befreien, sind in dieser Ausstellungsperformance weder die Charaktere der Oper noch die Handlung oder Originalmusiken wiederzuerkennen. Im Zentrum stehen aufwendige Lichtstimmungswechsel, Musik des Komponisten Antonis Anissegos, die wirkungsvolle Inszenierung der Ausstellungsstücke und die Französische Revolution. Verbindet wirkt vor allem das Thema: Freiheit.
Doch selbst die Besucher:innen befindet sich in einer Art Gefangenschaft. Was auf den ersten Blick wie eine frei begehbare Ausstellung wirkt, in der man sich aufgefordert fühlt umherzugehen (was zu Beginn auch so genutzt wird), wandelt sich später, wenn die Protagonist:innen den Raum erobern, in eine klassische Zuschauer:innen-Situation: hier das schweigende Publikum, da die Performer:innen.

Einige Besucher:innen bleiben unschlüssig stehen, andere suchen sich einen Sitzplatz am Boden und betrachten das Geschehen aus der Ferne. Verschwinden die Protagonisten in den Raum zwischen den Saalsäulen, wagen sich Einzelne aus dem Publikum noch einmal zu den Ausstellungsstücken vor, weichen aber sofort zurück, wenn die Protagonist:innen wieder erscheinen. Beethovens Oper endet mit der grandiosen Befreiung aller Gefangenen. Hier sind es eher die Besucher:innen, die in die Freiheit entlassen werden, bevor die Performance von Neuem beginnt.