Das Delphi bebt, Antigone lebt


Antigone Exp. N°2“ im Theater im Delphi – ein atmender Abend zwischen Immersion, Virtualität und Oper.

 

Von Fabian Leßmann

 

Da ist gerade Kreon an mir vorbeigelaufen. Mit einem halben Meter Abstand. Also Kreon, der König von Theben. Mit einem pinken Reif als Krone. Schwitzend. Und vor allem: singend. Auf italienisch, immer höher werdend, Antigone in die Enge treibend. Bis diese sich wehrt – und zu einem schellenden Gegensolo ansetzt.

Immersives Musiktheater gibt es im Theater im Delphi: „Antigone Exp. N°2“, eine Kooperation des Berliner Ensembles LUX:NM, die sich einen Namen in der Szene für Neue Musik erspielt haben, und des französischen Musiktheaterkollektivs Cie.AGORA, die sich für körperlich-sensorische Begegnungen mit dem Publikum begeistern. Die Grundlage für all das: Die italienische Oper „Antigona“ von Tommaso Traetta, basierend auf Sophokles „Antigone“. Man erinnere sich: Die Brüder Eteokles und Polyneikes greifen beide nach der Herrschaft über das griechische Theben und sterben im Kampf. Ihr Onkel Kreon wird König und sagt nur Eteokles eine Bestattung zu. Antigone, Schwester der beiden, setzt sich dagegen zur Wehr und bestattet Polyneikes heimlich. Dafür richtet Kreon sie hin – sie stirbt als Märtyrerin (und nach ihr auch Kreons Sohn und Frau).

Zumindest bei Sophokles. Traetta gab seiner Oper ein Happy End: Kreon sieht seine Fehler ein – und alle Tode sind vermieden. Die Grundlage des Abends ist also eine Oper, und die Stars sind somit die französische Sängerin Lisa Tatin als Antigone und der amerikanische Sänger Darell Haynes als Kreon. Unterstützung gibt es dabei nicht nur instrumental von LUX:NM, sondern auch vom Lichtenberger Kammerchor Piekfeine Töne und Mitgliedern des Chors „Voix de Lausanne“.

Da stehe ich also im Theater im Delphi, dessen Name für den Abend im griechischen Theben passt. Der Saal ist wirklich groß und die Bühne mit dem Torbogen passt auch ausgezeichnet. Das Publikum steht verteilt im Raum, die Musiker sitzen vor und auf der Bühne, alles wartet auf den Beginn. Plötzlich ertönt in unserer Mitte Chorgesang. Schon der erste Moment ist also einer mit Gänsehaut, während sich die unter uns weilenden, äußerlich nicht auffallenden Chormitglieder langsam in der Mitte versammeln, um singend zu bestaunen, wer hier begraben wurde und wer nicht.

So nimmt die Handlung ihren Lauf, zwischen uns, um uns, überall. Darell Haynes als Kreon tritt auf, lässt sich mit einer bombastischen Selbstverständlichkeit von der Menge feiern, während er mit seiner Tenorstimme Teile der Oper rezitiert. Auf Italienisch. Natürlich verstehe ich kein Wort. Dennoch wirkt es auf mich, weil einfach so viel passiert, weil man weiß, worum es geht, und weil der ganze Saal immer energisierter wird. Man schaut einfach gerne zu, ist ergriffen, als dann auch noch Lisa Tatin auftritt und sich Kreons viel zu herrlicher Selbstverständlichkeit mit ihrer Sopranstimme entgegenstellt, sich später verkleidet und aus ihrer Mission, Polyneikes zu bestatten, Wirklichkeit macht. Teile des Chors stellen sich langsam auf ihre Seite. Man vergesse nicht: Das hier ist immersives Theater, wir sind mittendrin, und auch wenn wir nicht direkt teilnehmen, spüren wir den Konflikt, als die Masse sich teilt. Was hier verhandelt wird, in einem Raum voller musikalischer Wucht.

Dabei gibt es so viele schöne Momente, nicht nur Kreon, den ich fast spüren kann, als er an mir vorbeiläuft. Da gibt es Antigone, die sich singend zwischen uns paranoid umschaut, dann einen älteren Mann aus dem Publikum mit dem Blick fixiert, ihn berührt. Da gibt es Kreon, der seine Selbstverständlichkeit weiter auf den Höhepunkt treibt, sich auf der Empore zu Technomusik feiern lässt, während sich das Theater im Delphi kurz in einen Club verwandelt, in dem die Chormitglieder mit Kreon-Schals plötzlich ziemlich abgehen, was sich mitunter auf das Publikum überträgt. Bis die Party dann von einer wütenden Antigone und ihren Anhängern radikal beendet wird. Das Ganze ist einfach so bewegt, man ist so mittendrin, es ist so herrlich überfordernd, mit der Musik und dem Gesang, der Polarität von Kreon und Antigone, dass man gar nicht anders kann, als wirklich ein Teil davon zu werden.

Aber als wäre die Kombination von immersivem Theater und italienischer Oper noch nicht genug, kriegen wir als Publikum auch noch eine App an die Hand, die wir uns am Eingang runterladen. Zwei Kameramänner übertragen das Geschehen hautnah auf unsere Smartphones. Das ist aber nicht etwa eine Großaufnahme von dem, was wir eh schon sehen. Nur hier erblicken wir die Leiche des Polyneikes und wie Antigone sein noch schlagendes Herz in sein Grab trägt. Inmitten einer starken Immersion in eine lebendige Welt wird also auch noch suggeriert, dass der Grundkonflikt, den wir sehen und hören und spüren können, aus einem virtuellen Raum kommt, der nirgendwo und überall ist, und vor allem in der spürbaren Realität gar nicht sichtbar.

Nach den 65 Minuten in dem ästhetisch verwandelten, jetzt so bewegten, ja atmendem Delphi bin ich vor allem eins: enttäuscht, dass das Antigone-Experiment schon vorbei ist.